Zur Kritik des Politizismus

Bildmontage: HF


Von Meinhard Creydt

„Das Prinzip der Politik ist der Wille. Je einseitiger, d.h. also, je unvollendeter der politische Verstand ist, um so mehr glaubt er an die Allmacht des Willens, um so blinder ist er gegen die ... Schranken des Willens, um so unfähiger ist er also, die Quelle sozialer Gebrechen zu entdecken“ (MEW 1, 402).

Wer ein Medikament zu sich nimmt, informiert sich über die Nebenwirkungen. Sie können den beabsichtigten Nutzen infragestellen. Nicht anders verhält es sich beim Politisieren. Allerdings ist die Aufmerksamkeit für dessen Probleme bislang vergleichsweise wenig verbreitet.

Das Politisieren ist schon im Ansatz verdreht, wenn es die subjektlosen Strukturen der kapitalistischen Ökonomie verkennt. Nicht nur in Verschwörungstheorien wird die These vertreten, „die Herrschenden“ könnten über die grundlegenden Gesellschaftsstrukturen bestimmen. „Wirtschaftliche Gesetzmäßigkeiten“ stellen für Alex Demirovic (Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates der Rosa-Luxemburg-Stiftung) „Freiheit dar, allerdings die Freiheit einer kleinen Zahl von Menschen, die diese Gesetzmäßigkeiten maßgeblich gestalten und davon profitieren. Wenn die wirtschaftlichen Prozesse Ergebnis von Entscheidungen sind, dann liegt es nahe, diese Entscheidungen zu demokratisieren“ (Demirovic, in: Ulrich Brand u. a. (Hg.): ABC der Alternativen. Hamburg 2007, S. 256). „Wirtschaftliche Gesetzmäßigkeiten“, so lesen wir, sind also keine Gesetzmäßigkeiten, sondern … „Freiheit“. In diesem voluntaristischen Horizont (die einen haben die „Freiheit“ schon, die anderen sollen sie sich einfach ... nehmen) lautet dann die Perspektive: Lasst uns den autokratischen und unsolidarischen Willen einer kleinen Minderheit durch den Willen der Mehrheit ersetzen! Daniela Dahn formuliert das so: „Der Auftrag der Sammlungsbewegung wäre, das Primat der Politik zurückzuerobern“ (Neues Deutschland 18.8.2018, S. 4).

Das Wort „zurückerobern“ (Dahn) suggeriert die frühere Existenz des „Primats der Politik“ in der kapitalistischen Gesellschaft. Gewünscht wird sich anscheinend folgendes: Nicht „allein“ Marktgesetze sollen die Gesellschaft prägen, sondern „auch“ bspw. sozialstaatliche Elemente. Das Ausmaß des Sozialstaats in kapitalistischen Marktwirtschaften ist jedoch faktisch langfristig vom Erfolg eben dieser Ökonomie abhängig und lässt sich unter kapitalistischen Bedingungen nicht dauerhaft gegen ihn politisch stabilisieren. Für die Begründung diese These möchte ich auf meinen Artikel „Die Idealisierung der Staatspolitik und des Sozialstaats in der Kritik am ‚Neoliberalismus’“ hinweisen. Er erschien 2017 im Netzmagazin Telepolis (http://www.meinhard-creydt.de/archives/704).  Die Vorstellung von einem „Vorrang der Politik“ läuft oft darauf hinaus, dass die ökonomischen Sachzwänge nicht allein als wirtschaftlich nützlich für die Bevölkerung, sondern auch als einer Politik für die Bevölkerung angemessen aufgefasst werden. Die sozialstaatlichen Anbauten am Kapitalismus begünstigen dieses Bewusstsein. Es interpretiert die kapitalistische Ökonomie um zum Bestandteil eines p o l i t i s c h e n Projekts: der „sozialen Marktwirtschaft“. Sie habe mit „bloßem“ Kapitalismus nichts gemein.

Freund und Feind identifizieren die hohe Staatsquote mit einer Einschränkung der Imperative der Kapitalverwertung in der Gestaltung des ökonomischen Ge­samt(re)produktionsprozesses. „Primat der Politik“ heißt bei manchen, „Unternehmenssubventionen, Steuer­erleichterungen und Exportförderun­gen“ sowie „Regelungen des Arbeits- und Sozialrechts sowie die Auswirkungen der diversen sozialstaatlichen Transfers“ zu bemühen, um zu behaupten: „Schon jetzt wird die Gewinnsteuerung gesellschaftlich in eine entsprechende Richtung gesteuert und ge­ lenkt. Es ist daher mög­lich, die Effizienz, Kreativität und Innovationskraft des wirtschaft­lichen Wettbewerbs über eine gesell­ schaftliche Steuerung auch für andere Zielsetzun­gen als für die Verfestigung einer überlieferten Macht- und Einkommensstruktur ein­zusetzen“ (Joachim Bischoff, Richard Detje: Historisches Erbe und moderner Sozialismus. In: Sozialismus H. 9, 1990, S. 19). Die Botschaft lautet: An der Vergesellschaftung hinter dem Rücken der Menschen durch Marktprozesse und den Ausgleich der Profitraten, an Konkurrenz, an Kapitalakkumulation aus Ursachen kapitalismusimmanenter Widersprüche (die Nachfrage nach Mehrwert erzeugender Arbeit muss absolut zunehmen, weil sie relativ sinkt) braucht sich nichts zu ändern. Eine „linke“ Wirtschaftspolitik könne unter Gebrauch des vorhandenen staatlichen Instrumentariums Wunder wirken. Die braucht es tatsächlich, um bei bestehender Voraussetzung von kapitalistischen Strukturen eine Politik zu machen, die sich an einer gegenüber dem Kapitalismus ums Ganze unterschiedenen „anderen Zielsetzung“ orientiert. Gewiss existieren staatliche Eingriffe zur Optimierung oder Stützung der Verwer­tungsbedin­gungen von Kapitalien sowie zur im Rahmen des Systems möglichen Korrektur von Fehlentwicklungen. Dieses staatliche Instrumentarium ist jedoch nicht zu verwechseln mit der Möglichkeit, die kapitalistische Ökonomie regieren zu können im Sinne von Zwecken, die mit ihr nicht konform sind. Bei der staatlichen Wirtschaftspolitik im Kapitalismus handelt es sich um eine „formale Politisierung“ der Ökonomie, in der „wirtschaft­liche Aufgaben zwar politisch-administrativ behandelt werden, ohne jedoch die Rationalitätskriterien privaten Marktverhaltens anzuta­sten“ (Herbert Kitschelt: Materiale Politisierung der Produktion. In: Zeitschrift für Soziologie. Jg. 14, 1985, S. 191).

 

Die frohe Botschaft vom Primat der Freiheit und der Politik über die gesellschaftlichen Institutionen und Strukturen

Wer das so beschaffene Verhältnis von Ökonomie und Politik überwinden will, kann nicht länger für „die Armen“, „die Arbeitslosen“ und „die Umwelt“ förderliche Politprojekte schmieden auf der Grundlage der fortbestehenden kapitalistischen Ökonomie. Ohne deren Überwindung werden die kapitalistischen Sachzwänge sich gegen all diejenigen geltend machen, die sie ignorieren. Und auch gegen diejenigen, die meinen, den politischen Reiter zu spielen, der sich unter der kapitalistischen Ökonomie so etwas wie ein Pferd vorstellt und sich zutraut, sie dirigieren zu können wie der Reiter das Pferd. Wer die kapitalistische Ökonomie überwinden will, wird zu beantworten haben, was an die Stelle von denjenigen positiven Anreizen und negativen Sanktionen treten kann und soll, die in der bürgerlichen Arbeits- und Geschäftswelt die Akteure antreiben. In der Bevölkerung herrscht trotz der Beschwerden über einzelne negative Folgen wenigstens in einer Hinsicht eine hohe Akzeptanz der kapitalistischen Wirtschaftsweise. Gewiss weiß jede(r) Beispiele für mangelnde Effizienz und Effektivität in der Wirtschaft zu benennen. Das ordnet sich aber im vorherrschenden Bewusstsein der Bevölkerung einer anderen Auffassung unter. Ihr zufolge könne Ökonomie nicht funktionieren ohne Konkurrenz, ohne Privateigentum, ohne Kontrolle von oben in Organisationen sowie ohne die selbstbezügliche Steigerung des abstrakten Reichtums (Kapitalakkumulation). Insofern gilt die kapitalistische Ökonomie als bislang einzig mögliche und insofern nötige Art und Weise effizienten und effektiven Wirtschaftens. 

Bei Dahn und Demirovic spielt die Frage nach denjenigen gesellschaftlichen Strukturen der Produktions- und Reproduktionsprozesse keine Rolle, die es erst erlau­ben, dass die kapitalistische Ökonomie im benannten Sinne unnötig werden und die nachkapitalistische Ordnung gelingen kann. Die einschlägigen Fragen lauten z. B.: Welche neuen Formen der Vergesellschaftung ermöglichen es, dass die verschiedenen Betriebe, Organisationen, Bereiche und Regionen nicht in Interessengegensätzen zueinander stehen bzw. sich auf ihre jeweiligen Sonderinteressen fixieren? Welche neue Ordnung übergreift die Arbeitsteilung und funktionale Differenzierung in der Weise, dass die Fragmentierung der Aufmerksamkeiten (Tunnelblick und Bereichsautismus) nicht die Gestaltung der Gesellschaft infragestellt? Wie sehen die Strukturen einer neuen Bilanzierung der Wirtschaftsaktivitäten und die Institutionen der Koordination, Verständigung und Regulierung unter den Akteuren aus, die Märkte einhegen oder ersetzen können? Analysen und Vorschläge zu solchen Fragen finden sich in meinen Büchern „Wie der Kapitalismus unnötig werden kann” (Münster 2014, 2. Auflage 2016) und „46 Fragen zur nachkapitalistischen Zukunft” (Münster 2016). Die Institutionen und Strukturen der anzustrebende nachkapitalistische Gesellschaft werden sich daran messen lassen, ob sie es ermöglichen, solcherart Probleme befriedigend lösen zu können.

Dahn und Demirovic plädieren für „Selbstbestimmung” oder “Demokratisierung”, als seien diese Ja-Worte etwas anderes als Leerformeln. Eine Antwort auf die bislang ungelösten konzeptionellen Probleme nachkapitalistischer Institutionen und Gesellschaftsstrukturen geben sie nicht. Das Plädoyer für das fiktive „Primat der Politik” erweist sich als Übersprungshandlung. Der Appell (von Demirovic und Dahn) an den Triumpf des guten Willens bzw. ihr Plädoyer für eine nebulös bleibende kollektive Selbstermächtigung zeugen vom Unvermögen oder Unwillen, sich auf die Problematik der strukturellen und institutionellen Ebene einzulassen. Dabei liegt eine gravierende Schwäche linker Bewegungen gerade darin, mit den Fragen ihrer Adressaten nach den Grundrissen einer nachkapitalistischen Zukunft (auch in Bezug auf die Erfahrungen mit DDR & Sowjetunion) oft wenig überzeugend umgehen zu können.

Anhänger des „Primat der Politik” lösen diese Probleme unter Abstraktion von deren Schwierigkeiten. Sie verlassen stillschweigend das Terrain, auf dem diese Probleme situiert sind. Sie verschieben, „versetzen” (MEW 18, 237) oder „transponieren” die Probleme in die politische „Ebene” und ihnen entgeht die damit verbundene Verfremdung der Probleme. Die Rede vom „Primat der Politik” stellt die Aufbauordnung der gesellschaftlichen Welt auf den Kopf. Keine Gesellschaftsformation kann auf dem „Primat der Politik“ gründen.[1] Dass das politische Bewusstsein erst von den ihm zugrunde liegenden gesellschaftsformationsspezifischen Strukturen der Produktions- und Reproduktionsverhältnisse aus begriffen werden kann, ist für begeisterte Politikinsider und solche, die es werden wollen, ein hinderlicher Gedanke. Politikenthusiasten und diejenigen, die von der Politik leben wollen (zum Begriff des „Politikanten” vgl. den Exkurs), meiden folgerichtig die Kritik am zur bürgerlichen Gesellschaft passenden Horizont von Politikern wie der Teufel das Weihwasser. Diese Kritik lässt sich analog zur Kritik am Horizont der Juristen in der bürgerlichen Gesellschaft formulieren: Die Menschen können ihre „Lebenslage nur vollständig selbst erkennen, wenn sie die Dinge ohne juristisch gefärbte Brille … anschauen“ (MEW 21, 494). Wer sich wie Dahn und Demirovic auf das „Primat der Politik” fixiert, für den sind diejenigen Analysen und Kritiken vergeblich erarbeitet worden, die über die Verkehrungen und Mystifikationen des politischen Bewusstseins und der Politik in der bürgerlichen Gesellschaft aufklären.[2]

 

Exkurs zum „Politikant“

Je größer die Apparate von Gewerkschaften und linken Parteien werden, und je stärker deren „Institutionalisierungsprozess fortschreitet, desto mehr muss sich die Gewinnung der ‚Köpfe’ tendenziell der Gewichtung von Posten unterordnen, und desto mehr treten die nur durch Hingabe an die ‚Sache’ gebundenen Mitstreiter zurück hinter den ‚Pfründnern’, wie sie Weber nennt, einer Art von Klienten, die durch die Vorteile und Profite, die er ihnen sichert, dauerhaft mit dem Apparat verbunden sind und die soweit zum Apparat halten, wie er sie hält, indem er ihnen einen Teil der materiellen oder symbolischen Beute zuteilt, die er dank ihrer erringt“ (Pierre Bourdieu: Die Politische Repräsentation. In: Berliner Journal für Soziologie, H. 4 1991, S. 507). Diese „P f r ü n d n e r“ lassen sich auch „P o l i t i k a n t e n“ nennen. Dieser Terminus bildet ein Resultat der von Fritz Brupbacher (1874-1945) formulierten lesenswerten Reflexionen auf die Erfahrungen mit der Arbeiterbewegung sowie mit Sozialdemokraten und Kommunisten der 1910er-1930er Jahre. „Wir nennen Politikanten einen Politiker, bei dem der Dienst am Kollektiv ein Vorwand ist, um ökonomische oder psychologische Geschäfte zu machen“ (Fritz Brupbacher: Hingabe an die Wahrheit. Berlin 1979, S. 114. Für die Kritik am  Politizismus ist ebenfalls unbedingt zu empfehlen sein Buch: Sechzig Jahre Ketzer. Selbstbiographie. Zürich 1973). „Der Wille, mit dem Aufsteigen nicht zu warten, bis die Produktionsverhältnisse für den Aufstieg aller Ausgebeuteten reif sind, (gibt) dem („linken“ – Verf.) Politikanten Fingerspitzengefühl und sicheren Instinkt: wann muss man wie weit nach links halten? Wo ist was zu lernen, auszuplündern und abzustauben, um es an geeigneter Stelle einer erstaunten Welt vorzutrompeten? Welche Leute meidet man zur Zeit besser? Wo soll man mitmischen, wo sich einhaken? Wie halte ich mich oben?“ (Schwarze Protokolle, Nr. 3. West-Berlin 1973, S. 18f.).

 

Die politisierende Pseudosouveränität meint, in vermeintlicher Unabhängigkeit vom „stummen Zwang der Verhältnisse“ (MEW 23, 765) über die Entwicklung der Gesellschaft in aller „Freiheit” „entscheiden” (Demirovic) zu können. Die Politik und die Demokratie der bürgerlichen Gesellschaft verhalten sich zu den mit der herrschenden Arbeitsteilung, der Konkurrenz und den Entwicklungsmaßstäben des abstrakten Reichtums implizierten Spaltungen, Hierarchien und Bornierungen, indem sie „sich auf eine abstrakte und beschränkte, auf partielle Weise über diese Schranken erheben“ (MEW 1, 354) und sie für „unpolitisch“ bzw. die Demokratie nur äußerlich tangierend erklären. Dahn und Demirovic radikalisieren die für den politischen Stand typischen Mystifikationen ins Verstiegene. Sie gehen vom Politisieren zum Politizismus über.

Den der bürgerlichen Gesellschaft eigenen Formen des politischen Bewusstseins und der Politik sind Momente des Scheins eigen. Der Politizismus verhält sich zu den Momenten des Scheins im politischen Bewusstsein als Magnet, der sie anzieht, sowie als Gestaltschließung und Verabsolutierung dieser Momente. „Schein“ heißt: Etwas real Unselbständiges wird von seinen konstitutiven und reproduktiven Zusammenhänge abgelöst, als unmittelbar und selbständig wahrgenommen. Das solcherart Erscheinende dreht sich in sich selbst ein. Seine scheinhafte Autonomie bewährt sich darin, sich als souverän aufzufassen. Souverän scheint es nicht nur über das, wovon es faktisch abhängt, sondern auch über das, was seine eigenen Inhalt konstituiert. Adorno spricht davon, „verdinglichte Arbeitsteilung laufe Amok“ (Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt M. 1970, S. 384). „Materialistische Kritik“ gelte der „Verblendung der Unmittelbarkeit“, die „ideologisch die eigenen Vermittlungen“ nicht wahrhaben wolle (Ebd.).

 

Alles kann so bleiben, wie es ist, nur das „politische Kräfteverhältnis“ nicht

Mit einer materialistischen Analyse der gesellschaftlichen Aufbauordnung wird es möglich, den bestimmten Zusammenhang zu analysieren, in dem die gesellschaftlichen Prozesse der Erwirtschaftung und Formung des Reichtums sowie die Politik, das Recht, die Moral und die Kultur zueinander stehen.[3] Das Wissen von der gesellschaftlichen Aufbauordnung verhält sich zur jeweiligen Binnenlogik ihrer verschiedenen Bereiche nicht reduktiv, sondern rekonstruktiv. Bspw. kommt es in den staatlichen Aktivitäten zur Bearbeitung von Folgen und Voraussetzungen bestimmter durch die kapitalistischen Formen und Strukturen des gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozesses gegebenen Trennungen, Gegensätze und Ausblendungen. Diese Bearbeitung findet auf der Grundlage dieser Formen und Strukturen statt. Die scheinhaften Bewusstseinsinhalte in Politik, Recht und Moral lassen sich aus der „Selbstzerrissenheit“ ihrer „weltlichen Grundlage erklären“ (MEW 3, S. 6). Die (relative) Emanzipation des Scheins von den ihm zugrundeliegenden gesellschaftlichen Strukturen und Formen ist aus ihnen zu erklären – vgl. Marx’ Analyse der Bewusstseinsformen in seiner ‚Kritik der Politischen Ökonomie’. „Es ist … nicht der Mensch, der sich selbst über die Realität täuscht, es ist die Realität, die ihn dadurch täuscht, dass sie unvermeidlich in einer Form erscheint, die sich dem spontanen Bewusstsein der in der Geschäftswelt lebenden Menschen auf verdrehte Weise zeigt und verbirgt“ (Maurice Godelier, Maurice: Perspectives in Marxist Anthropology. New York 1977, S. 170). In der scheinhaften Autonomie des Politischen ist „beides enthalten, die freie von allem abstrahierende Reflexion und die Abhängigkeit von dem innerlich oder äußerlich gegebenen Inhalte und Stoffe“ (Hegel Bd. 7, S. 66). Um nicht missverstanden zu werden: Es geht an dieser Stelle nicht um eine hinreichende Analyse z. B. der Staatstätigkeit und des juristischen Apparats in der Gesellschaft mit kapitalistischer Ökonomie. Für eine solche Analyse ist die Erkenntnis der Konstitution der scheinhaften Bewusstseinsinhalte in diesen Bereichen e i n erforderliches, also nicht zu übergehendes Moment.

Demirovic wendet sich nicht nur im Hinblick auf die nachkapitalistische Gesellschaft, sondern auch in Bezug auf die Analyse der kapitalistischen Gegenwart gegen die materialistische Gesellschaftsstruktur-Theorie. Seine Intervention steht im Kontext der „Wiederkehr eines einfachen Marxismus“, die Michael Wendl in seinem lesenswerten Buch „Machttheorie oder Werttheorie“ (Hamburg 2013) beschreibt. „Einfacher Marxismus“ heißt u. a.: Statt Kapitalismuskritik Kapitalistenkritik. An die Stelle der Analyse der mit der kapitalistischen Ökonomie verbundenen Strukturen und Formen der Gesellschaft tritt ein handlungstheoretische Verständnis. Ihm gelten die Mächtigen und Reichen als herrschende Kollektivsubjekte der Gesellschaft. All das, was durch die Studien des Marx’schen ‚Kapitals’ und der ‚Grundrisse’ seit den 1970er Jahren an Erkenntnis erreicht wurde, soll abgeräumt und vergessen werden. Demirovic ist in diesem Kampf gegen die Lektüre der ‚Kritik der Politische Ökonomie’ als Gesellschaftsstrukturtheorie nicht allein. In Anlehnung an Laclau und Mouffe heißt es: „Die Ökonomie selbst ist … ein Kampffeld, das keine anderen ‚Bewegungsgesetze’ kennt, als die, welche einem Feld antagonistischer Kräfte entstammen. Auch der ökonomische Raum konstituiert sich ausgehend von einem politischen Kräfteverhältnis“ (Sonja Buckel: Neo-Materialistische Rechtstheorie. In: Dies., Ralph Christensen, Andreas Fischer-Lescano (Hg.): Neue Theorien des Rechts. Stuttgart 2006, S. 135). Gewiss spricht nichts dagegen, Kräfteverhältnisse zu analysieren. Etwas ganz anderes ist jedoch die These, Gesellschaftsstrukturen und die ökonomische Gesetze des Kapitalismus seien auf „politische Kräfteverhältnisses“ zu reduzieren. Buckel und Demirovic lösen denjenigen Begriff von Strukturen und Gesetzen auf, der in der ‚Kritik der Politischen Ökonomie’ entwickelt wurde. „Das Kräfteverhältnis“ und „der Kampf“ emanzipieren sich bei Demirovic und Buckel – Münchhausen gleich – von all denjenigen Kontexten und Hindernissen, über die erst die Analyse der kapitalistischen Gesellschaftsstrukturen und des Waren-, Geld-, Lohn- und Kapitalfetisches sowie der Mystifikationen des Zinses und der „Gleichwertigkeit der Produktionsfaktoren“ aufklärt. Das Extrem der politizistischen Weltanschauung („Hauptsache Kampf“) hat ein Ökonom aus der frühen Zeit des Stalinismus auf den Punkt gebracht: „Es ist nicht unsere Aufgabe, die Wirtschaft zu studieren, sondern sie zu verändern. Wir sind nicht durch Gesetze gebunden. Es gibt keine Festungen, die nicht von den Bolschewiki eingenommen werden könnten“ (zit. n. Leonard Shapiro: Die Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Berlin 1961, S. 386).

Der Voluntarismus von Demirovic, Dahn und anderen ist bescheidener: Letztendlich wollen sie so etwas wie eine Regierung von Ypsilanti bis Wagenknecht. Unter „Veränderung des Kräfteverhältnisses“ verstehen sie die Mobilisierung für das Projekt „Wasch den Pelz, aber mach ihn nicht nass“. Ein solcher „politischer Kurswechsel“ bei Nichtantastung der Grundstrukturen der kapitalistischen Gesellschaft soll viel Anklang in der „Zivilgesellschaft“ finden. Prägnant artikuliert Wagenknecht die dazugehörige Realitätsverweigerung. „Primat der Politik“ heißt für sie, einzutreten für „risikolose Geldanlagen“ mit einer „Rendite“, die dem Anleger erlaubt, ein „Vermögen anzusparen“[4] – als ob eine solche Anlageform im Kapitalismus existieren könnte. Da fehlt nur noch die Hoffnung auf Atomkraft ohne Radioaktivität. Der Politizismus fungiert als „eine fortwährende Ablenkung, die nicht einmal zur Besinnung kommen lässt, wovon sie ablenkt“ (Franz Kafka: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlass. Frankf. M. 1983, S. 242). Der politizistische Projektemacher ist „so ausschließlich mit seinen Hoffnungen beschäftigt, dass ihm nichts, was ihnen widerspricht, jemals wahr, eindeutig und spürbar genug erscheint“ (Ben Johnson). Der Politizist „hat ja ein Ziel vor den Augen“ und ordnet seinem Willen und seinen „Projekten“ die Vergegenwärtigung der Wirklichkeit unter.

 

PS: Ein für den Politizismus zentrales Missverständnis betrifft das Verhältnis von Struktur und Handlung im Kapitalismus. Es bildet ein schwieriges und bislang in der Diskussion häufig unbewältigtes Problem. Wer sich für eine eingehendere Darstellung interessiert, findet meinen Artikel „Zum Verhältnis zwischen Struktur und Handlung im Kapitalismus“ in: Kritiknetz – Zeitschrift für Kritische Theorie der Gesellschaft. https://www.kritiknetz. In Abschnitt 2 und 3 des Textes stelle ich „konstruktive“ Überlegungen zum Verhältnis von Struktur und Handlung im Kapitalismus vor. Abschnitt 4-6 haben typische Missverständnisse zum Thema (am Beispiel von Demirovic).

 


[1]   Zur Kritik an unangemessenen Auffassungen der feudalen Gesellschaftsformation, die sie charakterisiert sehen durch unmittelbare Herrschaftsverhältnisse, vgl. Barry Hindess, Paul Q. Hirst: Vorkapitalistische Produktionsweisen. Frankf. M. 1981, S. 178ff. Millionen von Chinesen haben infolge des von Mao Tse Tung befürworteten „Primats der Politik“ durch das voluntaristische Übergehen ökonomischer Strukturgesetze in den Zeiten des „Großen Sprunges“ und der „Kulturrevolution“ ihr Leben verloren.

[2]   Diese Analysen und Kritiken finden sich z. B. bei Marx (MEW 1, 355, 357, 368, 370), bei Oskar Negt, Alexander Kluge: Geschichte und Eigensinn. Frankf. M. 1981, S. 816, 818, bei Pierre Bourdieu: Die Feinen Unterschiede. Frankf. M. 1982, 8. Kapitel, insbesonders S. 699.

[3]   Zu einer Skizze der Konstitution des juristischen, politischen, moralischen und kulturellen Bewusstseins in der kapitalistischen Gesellschaft vgl. Meinhard Creydt: Die Aufbauordnung der Überbauten. Phase zwei, Nr. 27, 2008. Leipzig. http://www.meinhard-creydt.de/archives/87 Vgl. auch das Kapitel zur „gesellschaftlichen Aufbauordnung“ in Creydt, 46 Fragen, S. 178-185. Zur Kritik am Konstrukt der „funktionalen Differenzierung“ vgl. ebd., S. 69. Vgl. auch Hans-Heino Ewers: Die schöne Individualität. Zur Genese des bürgerlichen Kunstideals. Teil 2. Stuttgart 1978

[4]   Sahra Wagenknecht meint, es sei Zeit einzutreten für „eine solide und soziale Politik in Deutschland und Europa, die seriöse und risikolose Geldanlagen mit einer angemessenen Rendite für alle wieder möglich macht. … In Merkels Niedriglohnparadies Deutschland hat sogar jeder zweite Bürger kein Vermögen mehr und kann nichts ansparen, geschweige denn in Aktien investieren“ (Berliner Zeitung 4.8.2018).