Karl-Katia Krach:
Diskussionsbeitrag zum Faschismus

Für eine Diskussion über die Ursprünge des Faschismus habe ich diesen Essay geschrieben, in dem ich zeige, inwieweit die Entstehung von faschistischen Ideologien ein systemisches Problem im Kapitalismus ist. Auf diesem Wege will ich nun diesen Gedankengang mit euch teilen. In einigen wenigen Worten war das allerdings nicht möglich. Etwas Muße ist also schon gefragt für die Lektüre der folgenden Zeilen.

Ausgehend von einem Klassenwiderspruch bei Marx, entstehen die Versatzstücke faschistischer Ideologien in Ermangelung eines Verständnisses für die Ursachen vieler struktureller gesellschaftlichen Probleme und zur Erfüllung der ökonomischen Forderungen zur Renditesteigerung.

Problematisch ist die kapitalistische Wachstumsorientierung, da diese notwendig die Klassenverhältnisse verschärft. Kapitalistisches Wachstum ist auf Investitionen angewiesen und diese auf Eigenkapital. Firmen müssen Profite erwirtschaften, um in der Konkurrenz bestehen zu können. Profitraten müssen aber von jemandem erwirtschaftet werden.

Um die Profitrate zu steigern, gibt es mehrere Wege:
1) Die Beschäftigten werden schlechter bezahlt.
2) Die Effizienz und damit die Produktivität wird gesteigert und die gestiegenen Gewinne werden nicht (vollständig) an die Beschäftigten weitergegeben.
3) Es wird billiger eingekauft und dadurch verstärkt sich woanders der Wettbewerbsdruck. Das Problem wird also externalisiert und ensteht woanders von Neuem.

Engels hat den "bürgerlichen" Staat als "ideologischen Gesamtkapitalisten" beschrieben, der im Sinne der kapitalistischen Klasse einerseits dafür sorgt, dass die Beschäftigten sich nicht die Renditen selbst aneignen können. Dass die Polizei (und das Militär) die Aufgabe haben, das private Eigentum zu schützen, kann man nur leugnen. Andererseits vertritt er die kollektiven Interessen der kapitalistischen Klasse, wobei es auch hier verschiedenen Kapitalfraktionen mit verschobenen Interessen gibt. Die kapitalistische (oder imperialistische) Handelspolitik dient u.a. dazu, die Krisenfolgen zu externalisieren und sie Gesellschaften aufzuzwingen, die sich dagegen nicht wehren können.

Weil aber die kapitalistische Wirtschaftsweise notwendig zu immer weiter steigenden Klassendifferenzen und regelmäßigen Krisen führt und dann nur durch die massenweise Vernichtung von Waren und Produktivkräften aufrechterhalten werden kann, entstehen die Versatzstücke von faschistischen Ideologien.

--- Sexismus und Patriarchalismus ---

Da wäre als erstes die "Fruchtbarmachung" der als weiblich eingeordneten Körper für die Nationalökonomie. Michel Foucault beschreibt in "Sexualität und Wahrheit", wie das Konzept "Sexualität" in den europäischen Nationalstaaten entstanden ist. Das verwissenschaftlichte Konzept "weiblicher Sexualität" steht in engem Zusammenhang mit der Entstehung der Bevölkerungspolitik und des Militarismus.
Wie ich oben erklärt habe, bedeutet der Klassenwiderspruch, dass die kapitalistischen Volkswirtschaften ihr Wachstum nur durch eine gesteigerte Ausbeutung von menschlicher Arbeitskraft steigern können, aber nicht durch Steigerung der freien Kooperation. Gleichzeitig stehen die kapitalistischen Staaten in ständiger Konkurrenz, im ständigen Machtkampf, und um dabei nicht zu unterliegen, sind sie auf Wachstum angewiesen. Durch den Mangel an Kooperation entsteht also ein Mangel an ausbeutbarer Arbeitskraft.
Um diesen Mangel auszugleichen, arbeitet die konservative Bevölkerungspolitik an der Unterwerfung "weiblicher" Körper.

Wenn sie aber durch die Reproduktionsarbeit an den Herd gefesselt sind, fallen Frauen als Arbeitskräfte in der Produktion aus. Deswegen versucht die sozialliberale Bevölkerungspolitik sich an der "Vereinbarkeit von Familie und Beruf". Wenn allerdings alleinerziehende Frauen im Neoliberalismus neben der Reproduktionsarbeit noch zwei oder drei Jobs machen müssen, steigert sich ihre Ausbeutung gegenüber dem konservativen Modell sogar noch. Das weckt wiederum konservative Ressentiments gegen eine emanzipative Geschlechterpolitik.
Aus radikalfeministischer Sicht sind deswegen sowohl die Zumutungen der Kleinfamilie als auch die Ausbeutung und Entmündigung im "Beruf" abzulehnen, während der Sozialliberalismus versucht, diese zumindest erträglich zu gestalten.

Es gibt keine konsistente und einheitliche politische Linie, an die die kapitalistische Klasse gebunden wäre, sondern verschiedene/verschobene Interessen, die sich nicht allein auf Effekte des Kapitalismus reduzieren lassen. Es spielen durchaus auch historische, religiöse, ethisch-philosophische, kulturelle und soziale Aspekte eine Rolle dabei, wie die konkreten staatlichen Handlungen in einem Land jeweils ausfallen. Auch die Aktivität der Arbeiter:innen bei der Wahrnehmung ihrer Interessen, bei Streiks und Demonstrationen, in der Bildung und in der Klassen-Identitätspolitik hat einen Einfluss auf die Handlungen staatlicher "Entscheidungsträger".
Was jedoch die Vertreter der "bürgerlichen" kapitalistischen Ideologie eint, ist, dass bei ihren politischen Entscheidungen und Strategien das Weiterbestehen des Kapitalismus gesetzt ist, d.h. die Produktion von ökonomischem Mehrwert/Renditen und die Verfügbarkeit ausbeutbarer Arbeitskraft bleibt langfristig gesichert. In dem Maße, wie das Staatshandeln diesem Zweck unterworfen ist, agiert der Staat als "ideologischer Gesamtkapitalist".

Damit sind nicht nur Parteien, Politiker:innen und Polizei gemeint. Es trifft auch auf derzeitige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu. So wurde das Kükenschreddern und das One-Purpose-Huhn nicht einfach verboten, sondern es wurde eine Übergangsfrist zur Entwicklung einer technologischen Lösung gewährt, um die Embyonen in den Eiern zu schreddern und nicht die geschlüpften Küken. Auch bei Hartz-IV wurden nicht die Sanktionen auf das Existenzminimum generell verboten, sondern eine 30%ige Kürzung unter dem amtlich festgestellten existenziellen Mindestbedarf ausdrücklich erlaubt. Zudem wurden jegliche Regressansprüche der Geschädigten von vorn herein unterbunden und damit wurde bestätigt, dass der Staat und seine Repräsentanten die Menschenrechte und die Menschenwürde ungestraft und ohne Konsequenzen verletzen können.
Im Bereich der Geschlechterpolitik gibt es nachnwie vor die Rechtssprechung, dass sich Transsexuelle zur Wechslung des Personenstands einer psychologischen Begutachtung unterziehen müssen, was einzig und allein mit den Vergabekriterien geschlechterspezifischer staatlicher Förderung begründet wird. So wird die systembedingte Kompensation der einen Diskriminierung zur Rechtfertigung einer anderen Diskriminierung erhoben.

--- Rassismus, Nationalismus und (Neo-)Kolonialismus ---

Die Unterwerfung von Frauen ist aber nicht die einzige Möglichkeit, dem Mangel an ausbeutbarer Arbeitskraft abzuhelfen. Es können auch Gebiete erobert werden, um die dortige Bevölkerung der eigenen Nationalökonomie zu unterwerfen. Das führt historisch zu Kriegen zwischen kapitalistischen Staaten, zum Kolonialismus und zur Sklaverei. Die dabei führenden Ideologien sind Rassismus und Nationalismus. In diesen Ideologien werden die Mitglieder der eigenen Gruppe als höherwertig gegenüber anderen Gruppen betrachtet und so wird deren Tötung, Unterwerfung, Überausbeutung (im Vergleich zu "weißen" Arbeiter:innen) und Entmenschlichung (im Kontext von "Untermensch" oder "Nicht-Mensch") legitimiert.
Die Theorien der "Rasse" entstehen dabei nicht an den vermeinten Rändern der Gesellschaft. Sie bekommen eine beträchtliche Legitimation, weil sich auch (oder gerade) bei aufklärerischen "Vorzeigephilosophen" wie Kant und Hegel rassistische Rechtfertigungen der Sklaverei finden. Zumindest hat ersterer noch zu Lebzeiten diese Ansicht revidiert, seine Rassetheorien insgesamt hat er aber nicht verworfen.

Auch beim Kolonialismus kann man das ausmachen, was Friedrich Engels den "ideologischen Gesamtkapitalisten" nennt. Die kapitalistischen Staaten übernehmen die politische Verantwortung für die größtenteils privatwirtschaftlichen kolonialistischen Unternehmungen. Das betrifft nicht nur die westeuropäischen Staaten. Auch die Annektion des Königreichs Hawaii durch die USA folgte diesem Muster, weil die US-Armee dort einmarschierte, um Aufstände von Plantagenarbeitern zu unterdrücken und das Eigentum und die Profite von Konzernen wie Dole zu sichern.
Wenn man von Ausnahmen wie den USA oder Kanada absieht, sind die ehemaligen Kolonien heute zwar formal souveräne Staaten, aber sie stehen weiter in einem ökonomischen Abhängigkeitsverhältnis und es findet weiterhin ein Transfer von Kapital und Arbeitskräften vom Süden in den Norden statt. Der Kolonialismus ist zum Neokolonialismus geworden und die Erzählung von der ökonomischen "Entwicklung" der ehemaligen Kolonien wird durch die Vergrößerung des Abstandes zwischen Arm und Reich konterkariert.

--- Naturalisierung und Sozialdarwinismus ---

Unter der "Naturalisierung des Kapitalismus" sind die Ansichten zu verstehen, die im Kapitalismus und im bürgerlichen Eigentum eine Naturgegebenheit, ein Naturgesetz verstehen. Dies findet sich bei John Locke und vielen anderen Philosophen und Juristen als "Naturrecht" wieder. John Locke schreibt, ihm etwas von seinem Eigentum wegzunehmen, sei das gleiche, wie ihm einen Arm abzuhacken. Auch die Rede von "natürlichen Hierarchien", wie sie von rechten Philosophen vertreten wird, naturalisiert die kapitalistischen Klassenverhältnisse.
Oft wird dem Kapitalismus auch eine religiöse Rechtfertigung gegeben, wie z.B. bei der amerikanischen, polnischen oder türkischen Rechten, was in Verbindung mit der konservativen Bevölkerungspolitik und der theologischen Rechtfertigung von Herrschaft und Patriarchat steht. Auch hier werden historische Verhältnisse naturalisiert.

Im gegenwärtigen Diskurs ist "Resilienz" das Konzept der Stunde. Sowohl die Volkswirtschaft als auch die Individuen sollen "resilient" gegen externe Schocks werden, diese absorbieren und bestenfalls noch kreativ verarbeiten. Dabei werden auch die Krisen des Kapitalismus als etwas definiert, das die kapitalistische Volkswirtschaft von außen trifft.
Auch auf Seiten der Individuen ist die Erzeugung von "Resilienz" ein Ausdruck der Psychiatrisierung der Gesellschaft. Selbstverständlich ist ein gewisses Maß an individueller "Resilienz" in jeder Gesellschaft notwendig, um mit den Problemen des Lebens umgehen zu können. Aber da im psychiatrischen System nicht methodisch zwischen systeminternen und -externen Stressursachen unterschieden wird, werden die Schocks, die durch die kapitalistische Produktionsweise entstehen, nicht auf ihren gesellschaftlichen Ursprung zurückverfolgt und sozialpsychologisch addressiert. Im Gegenteil wird die Verantwortung für den Umgang mit diesen Schocks auf die Individuen abgewälzt, d.h. ausgesourct. Wer mit dem Kapitalismus nicht fertig wird, soll sich in psychiatrische Behandlung begeben.

Mit der Naturalisierung der Klassenverhältnisse gehen mehrere Schuldzuweisungen einher. Nicht nur an psychisch auffällige Menschen, die zu wenig "resilient" seien.
Eine andere Schuldzuweisung geht an die Armen: Diese seien selbst an ihrer Armut schuld - und sollten am Besten sterben. Das wird von Sozialdemokraten wie Franz Müntefering ("Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen!") oder Thilo Sarrazin geäußert und diese Schuldzuweisung bietet die Grundlage/Grundlegung für das Hartz-IV-Regime. Dabei wird verkannt, dass beim Wettbewerb die Verlierer immer schon mitgedacht sind.
Bereits Ende des 19. Jahrhunderts gab es von Seiten sozialdemokratischer Facharbeiter die Forderung nach der Vernichtung des (auch bei Marx so genannten) "Lumpenproletariats" (das heute Subproletariat genannt wird). Die Kontinuitäten zwischen diesen sozialdemokratischen Vernichtungsfantasien, der nationalsozialistischen "Aktion Arbeitsscheu Reich", dem Hartz-IV-Regime und den sozialrassistischen Morden an Obdachlosen werden im bundesdeutschen Diskurs derweil kaum jemals dargestellt.

Michel Foucault hat in "Überwachen und Strafen" auch die repressiven staatlichen Maßnahmen gegenüber sog. Landstreichern und anderen nomadisch lebenden Menschen wie Sinti oder Roma untersucht und herausgestellt, dass es auch hier um die Zuführung dieser Menschen zur nationalökonomischen Produktion geht. Bis heute gibt es in der "Europäischen Deklaration der Menschenrechte" einen Passus, der es ermöglicht, sog. Landstreicher zu inhaftieren. Was "Landstreicher" genau heißt, ist man sich in juristischen Kreisen uneinig, Obdachlose seien jedenfalls damit nicht gemeint - was Victor Orban etwas anders sehen dürfte.
Im Kampf gegen den Faschismus wurden im Stalinismus allerdings auch sehr viele Menschen aus dem Subproletariat in den Konzentrationslagern des System Gulag inhaftiert, um ihre Arbeitskraft der Nationalökonomie zuzuführen. Trotzdem wurden diese Menschen aus einer dem Stalinismus internen Dynamik wieder aus den Lagern entlassen. Das ist im Faschismus unvorstellbar.

Auch die eugenische Praxis und das Konzept von "lebensunwertem Leben" sind ein Effekt der Naturalisierung der kapitalistischen Nationalökonomie. Dabei wird zwischen ausbeutbarem und nicht-ausbeutbarem Leben unterschieden, zwischen Nutzen- und Kostenfaktoren. Zum Nutzen der Nationalökonomie soll dasjenige Leben vernichtet werden, das keinen ökonomischen Nutzen hat, sondern Kosten verursacht. Auch der faschistische Genozid an Sinti und Roma folgte dieser Logik, denn ihnen wurde es abgesprochen, überhaupt produktive Arbeit verrichten zu können.
Verfeinert hat sich dieses "eugenische" Element faschistischer Ideologie auch mitten in der bundesdeutschen Diskurslandschaft erhalten. Die Pränataldiagnostik führt in ihrer gegenwärtigen Form zu einer (ins Private verschobenen) Selektion bei Menschen mit Trisomie-21 und anderen Genmutationen. Oft geht es dabei - mit einer feinen Verschiebung gegenüber der Eugenik - auch um ein "nicht lebenswertes Leben".
Andererseits gibt es auch einen weit weniger sublimen Sozialrassismus, wie er sich etwa bei Richard David Precht findet, der das Kindergeld abschaffen will, weil er nicht will, dass arme Menschen Kinder bekommen.

--- Ökonomischer und struktureller Antisemitismus ---

Mit der Naturalisierung des Kapitalismus geht oft einher, dass die Ursachen seiner sich wiederholenden Krisen und ihrer Folgen nicht in den Widersprüchen des Kapitalismus verortet werden, sondern auf äußere Einflüsse zurückgeführt werden. Die Entstehung von Oligopolen, Monopolen und multinationalen Konzernen, der tendenzielle Fall der Profitrate, die Rezession, Massenarbeitslosigkeit und Massenverarmung werden dann auf das Wirken einer mehr oder weniger geheimen Elite zurückgeführt und nicht auf den kapitalistischen Wettbewerb.

Im ökonomischen Antisemitismus wird "den Juden" die Schuld an den Missständen im Kapitalismus zugeschoben. Ein so genannter struktureller Antisemitismus liegt dagegen vor, wenn nicht "den Juden", sondern z.B. einer Sekte von Pädophilen oder den Reptiloiden die Schuld an den Krisenerscheinungen des Kapitalismus zugeschoben wird.
Auch wenn einseitig dem transnationalen Kapital, einem "tiefen Staat" oder dem Finanzkapital als Ursache der Probleme ausgemacht wird, wird die Spaltung des Kapitals in ein "schaffendes" und ein "raffendes" Kapital reproduziert, wie sie im Nationalsozialismus vertreten wird. Das transnationale Kapital ist ein Effekt des Kapitalismus und nicht die Ursache seiner Widersprüche. Da der Kapitalismus zur Schaffung des Marktes auf den Staat angewiesen ist, gibt es notwendig auch Bürokratien, Geheimdienste und informelle Machtstrukturen. Ohne Finanzkapital würde es auch keinen Kapitalismus geben, da der Staat dann diese Rolle einnehmen müsste.
Ein struktureller Antisemitismus liegt vor, wenn die Ursachen der kapitalistischen Krise personifiziert werden. Der Kapitalismus wird aber durch einen Austausch des Personals nicht widerspruchsfrei.

Es gibt zudem eine Schuldzuweisung an die radikale Linke. Aus sozialdemokratischen Kreisen wird Sozialist:innen, Kommunist:innen und Anarchist:innen vorgeworfen, dass sie keine sozialdemokratische Parteien wählen und deswegen eine Mitschuld am Neoliberalismus tragen. Dabei wird verkannt, dass es gerade die SPD und die Grünen waren, die die Agenda 2010 in Deutschland eingeführt haben und dass der Neoliberalismus eine Konsequenz aus der kapitalistischen Wachstumsorientierung und dem Standortwettbewerb war.
Da die radikale Linke als Gegnerin eines vermeintlich widerspruchsfreien Kapitalismus auftritt, wurde im Nationalsozialismus eine jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung imaginiert und in verschwörungsideologischen Kreisen wird erzählt, dass die gesellschaftliche Linke durch "Gehirnwäsche" manipuliert worden sei.

Zu einfach macht es sich auch Thomas Haldenwang, der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichtes 2019. In seiner Rede reproduziert er Versatzstücke faschistischer Ideologie.
Er bezeichnet den "Hass" als "Virus", der die Demokratie befällt. Damit sagt er, dass die Ursache des Rassen- und Klassenhasses von außen kommt. Der Faschismus ist aber nicht mit dem Flugzeug aus China nach Deutschland gekommen. Weiterhin kennzeichnet er den Verfassungsschutz als "Immunsystem der Demokratie", verweist also auf einen "Volkskörper" und eine "Volksgesundheit". Damit werden unerwünschte politische Ansichten pauschal als krankhaft dargestellt und der Verfassungsschutzpräsident bewegt sich selbst in einem autoritärem, antidemokratischen Diskursfeld.
Wenn man schon vom demokratischen "Volkskörper" redet, ist der Faschismus eine "Autoimmunerkrankung" und wenn der Verfassungsschutz als Teil des "Immunsystems" gedacht wird, ist er Teil dieses Problems.

--- Antiliberalismus und Antiindividualismus ---

"Die Juden" werden im Antisemitismus auch als Ursache des Liberalismus (und des Individualismus) ausgemacht. Der Liberalismus sieht eine aktive Rolle des Staates als "Wettbewerbshüter" vor, erkennt die Tendenz zur Kapitalkonzentration also als Folge des Marktes an. Außerdem wird die Rolle des Marktes bei der Schaffung niedriger Preise betont, der tendenzielle Fall der Profitrate also nicht als krisenhaft interpretiert, sondern als Vorteil der Marktwirtschaft.
Dabei wird allerdings nicht reflektiert, dass für ein gesamtwirtschaftliches kapitalistisches Wirtschaftswachstum gesamtwirtschaftlich wachsende Renditeraten nötig und nicht fallende. Wenn der Markt also im Sinne der liberalen Theorie "funktioniert" und die Verbraucherpreise senkt, sinkt damit auch die gesamtwirtschaftliche Renditerate und es können weniger Investitionen gemacht werden.

Das "Funktionieren" des Marktes führt nicht zu gesamtwirtschaftlichem Wachstum, sondern zur Krise. Dann müssen zur Erhöhung der Profitrate die Löhne, Renten und Sozialleistungen gesenkt werden und es gibt Massenentlassungen. Oder es müssen zusätzliche Absatzmärkte erschlossen werden. Liegen diese Märkte in Ausland, geht das zu Lasten der dortigen Gesellschaft. Im Inland können neue Märkte zum Beispiel durch Privatisierungen von Staatsbetrieben wie der Bahn oder dem Gesundheitssystem erschlossen werden. Es ist auch möglich, dass durch die Einführung einer neuen Technologie neue Märkte erschlossen werden. Das daruas resultierende Wachstum hält aber nur solange an, bis der neue Markt gesättigt ist. Danach fallen durch die Konkurrenz die Renditeraten und es setzt ein Monopolisierungsprozess ein. Dies ist in der Digitalbranche in kürzester Zeit geschehen, da ihre "Fabriken" aus Software bestehen und die Innovationszyklen dadurch extrem verkürzt werden.
Es werden in jeder kapitalistischen Krise auch beträchtliche Mengen an Waren vernichtet. Das kann durch den Krieg geschehen, ist aber auch sonst der Fall. Dass dabei auch ein Teil der Arbeitskräfte vernichtet wird, weil sie an verhungern oder auf der Flucht vor der Armut umkommen, wurde im Liberalismus immer inkauf genommen. Derzeit werden in der kapitalistischen Weltwirtschaft ein Drittel der Lebensmittel weggeworfen. Gleichzeitig werden 80 Milliarden Haustiere ernährt, aber von 8 Milliarden Menschen muss eine Milliarde hungern.

Die Krise des Kapitalismus ist nicht einfach nur als eine Phase im Konjunkturzyklus zu verstehen. Kapitalismus ist immer krisenhaft, denn die Mittel, die zur Überwindung der Rezession angewendet werden, führen in die nächste Krise. Auch der Keynesianismus ist da keine Ausnahme. Hohe Steuern auf große Einkommen und Vermögen geben zwar dem Staat die Möglichkeit, ein Wohlfahrtsregime aufzubauen. Aber die Wirtschaftsförderung in der Rezession führt nur dann zu gestiegenen Renditen und kapitalistischem Wachstum, wenn es eine zusätzliche Ausbeutung von Arbeitskraft gibt.
Seit Jahrzehnten klagen Vertreter:innen der deutschen Wirtschaft über einen angeblichen Fachkräftemangel. Baustellen, Bauernhöfe oder Schlachtbetriebe, Pflegeheime oder Krankenhäuser sind längst auf ausbeutbare Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen. Das ist ein Effekt der Wachstumsideologie, der Kapitalkonzentration und der Exportorientierung der deutschen Wirtschaft.

Durch das Einwanderungsgesetz haben SPD und CDU außerdem das europäische Grenzregime für den staatlich organisierten Menschenhandels genutzt. Unqualifizierten Menschen soll der Weg nach Europa verwehrt bleiben und die afrikanischen Staaten werden gezwungen, ihre Bevölkerung in Afrika einzusperren. Gleichzeitig werden "Entwicklungshilfen" gezahlt und Ausbildungen in Afrika gefördert, um den Transfer von qualifierten Arbeitskräften nach Deutschland sicherzustellen.
Rechte sehen darin aber keine Bestechung, Erpressung und Nötigung der schwächeren Staaten durch die stärkeren, sondern die "Migrationswaffe" des Liberalismus, die gegen die vermeinte Einheit des Volkes gerichtet sei. Im Antiliberalismus wird das Scheitern des Liberalismus, die kapitalistische Krise zu verhindern, gegen die Freiheit selbst gewendet. Der Ruf nach dem "starken Mann" wird laut - als würde ein autoritärer Kapitalismus die Arbeiter:innen nicht noch viel rücksichtsloser ausbeuten und unterdrücken.

--- Autoritärer Charakter und Dialektik der Aufklärung ---

All diese ideologischen Versatzstücke - Sexismus, Patriarchalismus, Nationalismus, Militarismus, (Neo-)Kolonialismus, Rassismus, Sozialdarwinismus, Naturalisierung, ökonomischer und struktureller Antisemitismus, Antiliberalismus und Antiindividualismus - ließen sich vielleicht einzeln angehen und beseitigen, wenn sie nicht durch etwas verbunden wären, dass sich nicht recht unter "Ideologie" fassen lässt. Ideologie heißen bei Marx (und so benutze ich diesen Wort in diesem Essay) die mehr oder weniger unreflektierten Selbstverständlichkeiten in einer Kultur.
Was auf individueller Ebene als Kitt zwischen den oben genannten Ideologiefragmenten fungiert, wird in der kritischen Theorie der "autoritäre Charakter" genannt. Damit werden jene Charakterzüge bezeichnet, die auf Befehl und Gehorsam, Zwang und Gewalt und Unterordnung beruhen und die sich auch im Glauben an die technische Machbarkeit ausdrücken. Max Horckheimer, Theodor Adorno, Herbert llMarcuse und ihre Mitstreiter haben diesen Widerspruch (die so genannte Aporie) herausgearbeitet, dass nämlich gerade eine falsch verstandene Aufklärung zu dieser Entaufklärung führt.

Reproduziert wird der autoritäre Charakter vor allem in der kapitalistischen
Produktion. Dort werden die Verhaltensstrukturen des Befehls und Gehorsams eingeübt, sowohl auf Seiten der Befehlshabenden - der kapitalistischen Klasse - als auch auf Seiten der Befehlsempfänger - der Klasse der abhängig Beschäftigten.
Repräsentiert werden die autoritären Charakterstrukturen in der so genannten Dialektik der Aufklärung, in Konzepten der Vernunft, die diese auf eine instrumentelle Rolle zur Umsetzung des Willens festlegen. Immanuel Kants Devise der Aufklärung "Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" trägt diese Dialektik, diese Verkürzung, schon in sich, denn in ihr wird der Verstand in ein Dienstverhältnis zum Willen gesetzt. Dass Kant in der Aufklärung den "Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit" sieht, unterstreicht, dass er an eine nicht selbst verschuldete Unmündigkeit nicht denkt und legt nahe, dass Menschem, die historisch entmündigt worden sind, selbst schuld an ihrer Unmündigkeit seien. So ist zum Beispiel jede Geisteskrankheit für Kant auf einen Mangel an Vernunft zurückzuführen.
Auch die postmoderne liberale philosophische Theoriebildung geht davon aus, dass auf Basis der Vernunft keine Unterscheidung zwischen den Zwecken möglich ist, die Menschen anstreben. Menschen auszubeuten und zu entmündigen wird dann genauso legitim wie der Wunsch nach Freiheit und Emanzipation, wie der Ausgang aus der nicht (!) selbst verschuldeten Unmündigkeit im abhängigen Arbeitsverhältnis.

Dabei wird übersehen, dass jeder Wille und jede Vernunft ein Effekt historischer Bedingungen sind. Der eigene Wille ist also zunächst keineswegs vernünftig, sondern vor allem historisch und kann deswegen nicht unhinterfragt bleiben. Nur so kann der eigene Wille in seiner Verortung innerhalb der gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsprozesse begriffen werden. Nur so kann die Notwendigkeit erkannt werden, vom Gewollten abzulassen, wenn dieses zu sozialen und kognitiven Widersprüchen und Absurditäten führt.
Auch der Glaube an die technische Machbarkeit und an die technische Lösung sozialer Probleme, der ganz besonders im Ingenieursmilieu kultiviert wird, ist ein Ausdruck dieser Dialektik der Aufklärung. Im Futurismus/Brutalismus hat diese technokratische Vorstellung Einzug in die faschistische Ideologie gefunden und erhält dort eine mythologische Erhöhung.

--- Zwischenfazit ---

Es wurde nun gezeigt, wie Versatzstücke faschistischer Ideologie im Kapitalismus entstehen und reproduziert werden. Das heißt nicht, dass der Kapitalismus notwendigerweise die einzige Ursache dieser falschen Überzeugungen wäre, er ist aber die wichtigste.
Ich will nun einige Beispiele anführen, um die Entstehung konkreter faschistischer Bewegungen und Parteien aus diesen Ideologiefragmenten nachzuzeichnen.

--- Faschistische Bewegung ---

Die erste faschistische Bewegung entsteht im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Dort schließen sich die Nationalisten der "Action Francaise" mit Gewerkschaftlern der (ursprünglich anarcho-syndikalistischen) CGT zusammen. Die konservativen Nationalisten suchten nach einem Weg, auch die Arbeiter in ihr Konzept der Nation aufzunehmen und die ehemals anarchistischen Gewerkschaftler vom "Cercle Proudhon" entdeckten die Nation für sich. Gemeinsam war ihnen der Focus auf die revolutionäre kämpfende patriarchale Männlichkeit, die Gegnerschaft gegen Marx, die Zuwendung zum Mythos und der Antiliberalismus.
Dadurch, dass diese Syndikalisten damals die These von der Tendenz zur Kapitalkonzentration im Kapitalismus ablehnten, suchten sie die Schuld für die Monopolisierung und den Verfall der Renditen im Außen. Indem sie den Focus vom Antikapitalismus zum Antiliberalismus verschieben, verlieren sie den Bezug zum Wert der Freiheit, sie wenden sie sich vom Logos ab und dem Mythos zu.

Diese prototypische faschistische Bewegung wurde von den Zeitgenoss:innen als "weder links noch recht" wahrgenommen, weil sie eine nationalistische mit einer sozialistischen Rhetorik verband. Auch Mussolini kam aus der sozialistischen Partei und die "fasces" (Rutenbündel), die dem Faschismus seinen Namen gaben, waren zuvor Symbole der Arbeiterbewegung. Im Wort "Nationalsozialismus" hat sich diese sozialistische Rhetorik erhalten und heutzutage besuchen Mitglieder der Identitären Bewegung schon einmal eine Thälmann-Gedenkstätte.
Es ist müßig, darauf hinzuweisen, dass es bei all dieser Rhetorik niemals um den Sozialismus geht, sondern um die Sicherstellung von Privilegien für eine Gruppe Auserwählter, um das vermeintliche Wohl der Nation auf Kosten aller anderer.

--- Faschistische Partei ---

Der unterschiedliche Bezug zum Sozialismus und zum Frieden ist wohl die hauptsächliche Differenz zwischen faschistischer Bewegung und faschistischer Partei. In der faschistischen Bewegung wird Rudolf Hess als vermeintlicher Mann des Friedens verehrt und es wird auch behauptet, dass "das Volk" den Zweiten Weltkrieg nicht wollte, sondern dass dieser den Deutschen von außen aufgezwungen worden wäre. Vermeintlich geht es dieser Bewegung um Frieden, auch das macht sie so gefährlich.
Das sieht man auch bei Trumps Wahlkampf und seiner Anhängerschaft, die ihm zuschrieb, gegen die globale Interventionspolitik der USA aufzutreten und die Strategie des Regime Change zu beenden. Einmal an der Macht, kann aber auch Trump nicht anders, als das kapitalistische Wirtschaftswachstum in den USA und die globale Vormachtstellung durch eine Strategie des "maximalen Drucks" auf sämtliche ideologische Gegner herzustellen.

Wie absurd diese Heilserwartungen sind, zeigt sich in der QAnon-Verschwörungsmythologie, die die Geschichte einer apokalyptischen Auseinandersetzung zwischen einer Kinder missbrauchenden und fressenden liberalen Elite einerseits und den heroischen Gegenspielern Putin, Xi und insbesondere Trump auf der anderen Seite verbreitet.
Trump wird in diesem "life action role play" als Superheld im Dienste einer geheimen Widerstandsorganisation gesehen, der im Auftrag des Guten gegen einen globalen Pädophilenring agiert. Dass Trump selbst vor der Kamera übergriffige sexuelle Bemerkungen seiner Tochter gegenüber macht, stört da wenig.

Dabei fällt der strukturelle Antisemitismus ins Auge. Wurde Hitler zum Kämpfer gegen eine vermeintliche jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung stilisiert, so kämpft Trump vermeintlich gegen einen liberal-kommunistischen Pädophilenring.
Wenn faschistische Politiker:innen ihre Karriere als vermeintliche Rechtspopulisten beginnen, liegen die Versatzstücke ihrer faschistischen Ideologie in der kapitalistischen Gesellschaft schon längst vor und müssen nicht erst von ihnen hervorgebracht werden. Alles, was sie tun müssen, ist sich ihrer zu bedienen und sie an die jeweiligen Machtkämpfe anzupassen.

Die AfD ist dabei ein gutes Beispiel für die Entstehung einer faschistischen Partei. Gegründet wurde sie als rechtspopulistische Partei von enttäuschten ehemaligen Mitgliedern der SPD, CDU und FDP. In diesem Sinne entspringt sie der Mitte der Gesellschaft. Die gesellschaftliche Bewegung, auf die sie sich stützt, versteht sich gerade anfangs auch als die gesellschaftliche Mitte. Gerade am Beginn ihres Aufstiegs wurde die AfD von vielen Menschen als "weder links noch rechts" wahrgenommen und es gab sogar Stände am als linksautonom verschriehenen Connewitzer Kreuz in Leipzig, mit Beteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund, die in der AfD partout nichts rechtes sehen wollten.
Einmal als Partei etabliert gerät jedoch die innere Struktur unter die Logik der Eskalation und des Tabubruchs. Im Wettkampf der autoritären Charaktere um die "authentischsten", d.h. die brutalsten politischen Positionen geraten viele der Gründer:innen in ein Hintertreffen, die "moderatere" nationalliberale oder "rechtspopulistische" Positionen vertreten. Den Geist, den sie gerufen haben, bekommen sie allerdings auch durch die Gründung von Parteien wie "ALPHA" oder "Die Blauen" nicht wieder in die Flasche zurück.

--- Zentrismus und offene Gesellschaft ---

Was bei der AfD ins Auge springt, ist ihr Selbstverortung im "bürgerlichen" Spektrum und auch die Betonung, dass ihre Mitglieder und Wähler:innen aus dem "bürgerlichen" Milieu, aus der vermeinten "Mitte der Gesellschaft" kommen. Mit Alexander Gaulands Äußerung, Bernd Höcke gehöre zur "Mitte der Partei" wird diese Vorstellung auf die Spitze getrieben: dass nämlich die Mitte der Gesellschaft faschistisch denkt.
Davon gehen auch linke Theoretiker:innen nicht aus. Um die totalitären Tendenzen im Zentrismus der Parteien der "Mitte" zu kritisieren, wurde u.a. das Konzept des "Extremismus der Mitte" entwickelt (das selbstverständlich auch die so genannte Hufeisentheorie persifliert, aber trotzdem ernstzunehmen ist).

Dieser "Extremismus der Mitte" manifestiert sich im Ertrinkenlassen im Mittelmeer, im Verdurstenlassen in der Sahara genauso wie in dem System von Konzentrationslagern für Geflüchtete, die (vor allem) in der Peripherie der EU für die Entrechtung und Konzentrierung von Hilfsbedürftigen in staatlichen und quasi-staatlichen Gefangenenlagern sorgt. Auch die Unterstützung Erdoğans durch die EU, die Tolerierung von Eroberungsfeldzügen und ethnischen "Säuberungen" im Namen der nationalen Sicherheitsinteressen, die auch SPD-Außenminister Heiko Maas in seinen Äußerungen vertritt, sind eine Manifestation dieses "Extremismus der Mitte".
Besorgniserregend ist in diesem Kontext das Selbstverständnis der Parteien der "Mitte". Wenn etwa Jürgen Habeck äußert, dass eine Lösung für den sozialökologischen Umbau der Gesellschaft aus der "Mitte" kommen müsse, schließt er explizit alle linke Kritik und alle linken emanzipativen Konzepte aus. Es wird nur noch ein Spektrum zwischen Linksliberalen und Konservativen als für den Diskurs ausreichend qualifiziert angesehen und damit wird das Sagbare auf das Kapitalistische beschränkt. Selbst ein bedingungsloses Grundeinkommen ist in diesem Kontext kaum als mehr als eine neoliberale Sparmaßnahme zu interpretieren.

Damit wird allerdings auch jeder Emanzipationsversuch der Arbeiter:innen als potentiell "linksextrem" denunziert und auch dieser Text und seine Verfasser:in stehen schon durch seine Methodik potentiell mitten im Visier des Verfassungsschutzes. Durch diese Auffassung von der "offenen Gesellschaft" wird der Kapitalismus naturalisiert und autoritäre Tendenzen werden gestärkt.
Dieses Konzept einer "offenen Gesellschaft" unter dem expliziten Ausschluss jeglicher linker Emanzipationsbemühungen geht auf Karl Popper zurück, einen neoliberalen Philosophen, dessen Ideologie u.a. im Thatcherismus, dem Beginn des Neoliberalismus in Europa und beim faschistischen/neoliberalen Regime Change in Chile zur Anwendung kam.
Mit formalen Spitzfindigkeiten schließt Karl Popper effektiv jede linke Kapitalismuskritik aus, weil sie auf dem Konzept von "Klassen" beruht. Dabei wird argumentiert, es gäbe keine Gesellschaft, sondern nur Individuen. Dann bleibt nur noch die "Kapitalismuskritik" von rechts und diese ist immer ein gegen die Freiheit als solche gerichteter Antiliberalismus, d.h. der darwinistische Kampf der Stärkeren gegen die Schwächeren.

--- Schlussfolgerung: Ergebnisoffener Diskurs und Klassenkampf ---

Wenn also die Demokratie als ein Ort des vernunftorientierten Diskurses und der Freiheit entstehen/bestehen soll, dann muss ein tatsächlich ergebnisoffener Diskurs geführt werden, in dem Argumente pro und contra Kapitalismus ausgetauscht werden können und in dem diese ohne ideologische Rückhalte auf ihre Gültigkeit geprüft werden. Solch ein ergebnisoffener Diskurs ist aber nur gegen die kapitalistischen Macht- und Herrschaftsstrukturen zu führen, gegen kapitalistische Zeitungen und Verlage, Parteien und Stiftungen, Fernseh- und Radiosender oder Internetplattformen, die allesamt ein Interesse daran haben, dass genau so ein Diskurs nicht geführt wird.
Wenn der Kapitalismus oder Teile davon sich in einem solchen ergebnisoffenen Diskurs als unvernünftig herausstellen, ist das Ergebnis für Liberale zu akzeptieren, genauso wie unter den gegenwärtigen Diskurs- und Herrschaftbedingungen erwartet wird, dass Linke sich mit dem Kapitalismus arrangieren und keine gewalttätigen Umsturzversuche planen.

Wenn Liberale das nicht können, sollten sie sich fragen, inwieweit sie selbst autoritäre Charakterzüge tragen und inwieweit das Bedürfnis nach Untergebenen in ihren Ansichten verankert ist. Wenn man keinen ergebnisoffenen Diskurs führt und das auch nicht vorhat, ist es nichts als eine Lüge, vorzugeben, man würde eine "offene Gesellschaft" anstreben.
Dann wird ein gewalttätiger Klassenkampf provoziert und - so ist die These von Herbert Marcuse - dann werden auch entscheidende Teile des Kapitals und der vom Kapitalismus abhängigen Parteien eine faschistische Machtübernahme unterstützen. Das hat sich nicht nur in Deutschland gezeigt, wo bedeutende Teile des Kapitals als Unterstützer der NSDAP auftraten oder etwa in Chile und Nicaragua, wo der CIA eine faschistische Machtübernahme orchestrierte, sondern auch z.B. im Iran, in Afghanistan oder in Syrien, wo durch die westlichen Geheimdienste islamofaschistische Bewegungen instrumentalisiert, finanziert, ausgebildet und bewaffnet wurden.

Es ist also zur Bekämpfung des Faschismus einerseits eine starke Arbeiter:innenbewegung vonnöten, die die Arbeiter:innen bildet und ihnen den Klassenwiderspruch erklärt, sei es nur, um sie vom Faschismus fernzuhalten. Von den liberalen und konservativen Medien ist dies genausowenig zu erwarten wie von den öffentlich-rechtlichen.
Eine solche Arbeiter:innenbewegung kann sich nicht in den Gefilden des "Sozialpaktes" bewegen, denn dieser nationalistische Klassenpakt ist nicht mehr und nicht weniger als ein sublimierter Nachfolger der nationalsozialistischen "Betriebsgemeinschaft". Eine Bewegung der Arbeiter:innen, die diesen Namen verdient hat, muss unabhängig vom Staat und den Unternehmen bleiben. Als Beispiel dafür kann man Gewerkschaften wie die IWW oder die FAU ansehen.
Es muss allerdings auch ein ergebnisoffener Diskurs zwischen kapitalistischen und sozialistischen/kommunistischen Paradigmen geführt werden, um eine demokratische Transformation zu erreichen und revolutionäre Brüche zu vermeiden, die zu unnötiger Gewalt, reaktionären gesellschaftlichen Tendenzen und dem Erstarken autoritärer Charaktere auch in der Linken führen.

Mit dieser Hoffnung auf einen - ziemlich unmöglich erscheinenden - ergebnisoffenen Diskurs pro/contra Kapitalismus will ich dann auch diesen Text beenden und ich vielleicht erreiche ich, dass sich zumindest einiger der Leser:innen auf den Weg einer vorurteilsfreien politisch-ökonomischen Analyse begeben und bereit sind, die Konsequenzen daraus auch zu ziehen.

2 August 2020
Karl-Katja Krach

(Autor über die Redaktion zu erreichen)